Auszug aus "Busch: Wege. Brüche." Milchschattengewächse:

Man muß das ja alles im Auge behalten, wie man so schön sagt, sonst ist man plötzlich da, wo man gar nicht hinwollte, all die Jahre.

Ich sehe immer schlechter. Nicht, daß mich das besonders bedrücken würde, um Himmels Willen, nein, ich registriere es einfach nur. Manchmal ist es mir allerdings schon ein bißchen peinlich, zum Beispiel, wenn ich darauf angesprochen werde. Was soll ich denn dann auch sagen?

Eigentlich stimmt es ja auch gar nicht, daß ich immer schlechter sehe, das ist nicht ganz richtig ausgedrückt, aber alles andere würde die Sache ja nur noch weiter unnötig komplizieren, wer soll das auch verstehen.

Den Rhein-Deich vor unserem Wohnzimmerfenster, den sehe ich ganz klar und deutlich, und auch den Gehweg, der hinunter zum Rhein führt. Auf den vorbeifahrenden Schiffen kann ich meistens sogar die Namen noch lesen, "Else" und "Klothilde" und manchmal auch "Amsterdam"; das müssen Sie sich mal vorstellen, das sind, na, mindestens drei-, vierhundert Meter, aber das kann ich noch lesen! Auch die Bäume auf der uferlaufenden Wiese sehe ich in all ihrer frühlingshaften Pracht, und die vielen kleinen Hunde, wenn sie über die Wiese laufen, irgendeinem imaginären Häschen hinterher, oder ihrem Herrchen am Bein hoch springen, das alles macht mir keine Schwierigkeiten.

Man muß das ja alles im Auge behalten, wie man so schön sagt, sonst ist man plötzlich da, wo man gar nicht hinwollte, all die Jahre.

Ich sehe immer schlechter. Nicht, daß mich das besonders bedrücken würde, um Himmels Willen, nein, ich registriere es einfach nur. Manchmal ist es mir allerdings schon ein bißchen peinlich, zum Beispiel, wenn ich darauf angesprochen werde. Was soll ich denn dann auch sagen?

Eigentlich stimmt es ja auch gar nicht, daß ich immer schlechter sehe, das ist nicht ganz richtig ausgedrückt, aber alles andere würde die Sache ja nur noch weiter unnötig komplizieren, wer soll das auch verstehen.

Den Rhein-Deich vor unserem Wohnzimmerfenster, den sehe ich ganz klar und deutlich, und auch den Gehweg, der hinunter zum Rhein führt. Auf den vorbeifahrenden Schiffen kann ich meistens sogar die Namen noch lesen, "Else" und "Klothilde" und manchmal auch "Amsterdam"; das müssen Sie sich mal vorstellen, das sind, na, mindestens drei-, vierhundert Meter, aber das kann ich noch lesen! Auch die Bäume auf der uferlaufenden Wiese sehe ich in all ihrer frühlingshaften Pracht, und die vielen kleinen Hunde, wenn sie über die Wiese laufen, irgendeinem imaginären Häschen hinterher, oder ihrem Herrchen am Bein hoch springen, das alles macht mir keine Schwierigkeiten.

Und, klar, unsere beiden Katzen sehe ich auch, wenn sie hier durchs Zimmer jagen, Herrgott, wer könnte die auch übersehen, diese kleinen Teufelchen, und vor allem: man würde ihnen ja sonst auf die Pfötchen treten, und das will ja niemand.

Ich sehe also durchaus gut, so ist das nicht.

Den Himmel anzuschauen, macht mir immer noch Spaß, manchmal hole ich mein großes 20 mal 80er Fernglas aus dem Schrank und schaue mir nachts den Sternenhimmel an, aber nur heimlich, denn wenn man mich sehen würde, könnte man ja denken, ich schaue anderen Leuten ins Wohnzimmer. Und das wäre mir dann doch sehr unangenehm, wenn man so etwas von mir dächte. Wer bin ich denn? Als ob mich sowas interessiert...

Auch den Wolken schaue ich gerne zu, wenn sie tags über die alten Bäume am Ufer hinwegziehen, und im Sommer lege ich mich gerne auf die Rheinwiese, auf den Rücken, und schaue mir dann die Wolkenformationen über mir stundenlang an, wie damals, als ich noch ein Kind war. Und das Lesen, abends im Bett, klappt immer noch prima, aber ich tu es immer erst, wenn meine Tochter, bei der ich ja lebe, mich abends gefragt hat, ob es mir auch wirklich gut gehe und dann die Tür hinter sich schließt.

Die Menschen erkenne ich nicht mehr. Sie erscheinen mir nur noch wie verschwommene großflächige Klecksmännchen hinter so einer Milchglasscheibe, Sie wissen schon, was ich meine. Ich erkenne ihre Konturen nicht mehr. Und nur wenn ich ganz nahe an sie herangehe, weiß ich, ob es meine Tochter, ein Nachbar oder Tante Else ist (die im gleichen Haus wohnt wie wir, nur eine Etage höher, weil sie noch beweglicher ist als ich mit meinen alten Knochen).

Wegen dieser Sache war ich auch schon bei meinem Hausarzt, der mich dann zu einer Augenärztin schickte, die natürlich auch nichts fand - wie sollte sie auch. Ich habe dann auf eigene Kosten noch drei weitere Augenärzte konsultiert, man soll sich ja heutzutage nicht nur allein auf ein Urteil verlassen, man liest das ja immer wieder. Aber sie alle sagten mir, mit den Augen sei alles in Ordnung, Hornhaut, Pupille, Glaskörper, Netzhaut. Ja, sogar den Sehnerv hat man in der Augenklinik getestet, in die der dritte Augenarzt mich überwiesen hat. Ja, und dort kam man dann zu dem Ergebnis, es seien entweder das Alter oder die Nerven, ja, nun, was entschuldigt man nicht alles mit diesen beiden Allerweltserklärungen, es ist lächerlich.

Von mir aus hätte ich auch weiter gar keinen Arzt mehr konsultiert, denn mich stört das Ganze ja nicht, und meine Frau hatte es auch nicht gestört, als es auftrat, kurz vor ihrem Tod; ihr war es genauso egal wie mir. Aber das dauernde Gefrage von Nachbarn und Freunden ging mir irgendwann doch gehörig auf die Nerven, naja, man kennt das ja. Irgendwann wird man durch das ständige Gefrage zermürbt und sucht einen Weg, um die Leute zu beruhigen, und sei es durch viele Arztbesuche.

Nachdem die Augenärzte also nichts gefunden hatten, ging ich zu einem Psychiater, man muß ja alles ausprobieren. Der aber konnte auch nichts feststellen, und sogar mit seinen Tintenklecks-Tests konnte er nichts machen, und deshalb schickte er mich zu einem Neurologen, denn man wisse ja nicht, sagte er, ob sich da nicht etwas Schlimmeres hinter verberge; was immer das Schlimmere auch sein mag, das sagte er nämlich nicht. Der Neurologe war ein gründlicher Mann und steckte mich in so eine Röhre, mit der man meinen Kopf schichtweise röntgen konnte, so daß man auf einigen Bildern sogar meine Augen und die Sehnerv-Enden erkannte. Sagte er jedenfalls. Ich habe nichts erkannt, es interessierte mich aber auch, ehrlich gesagt, nicht. Der freundliche Herr Doktor meinte jedoch, Hirn und Augen seien, soweit man das von außen überhaupt erkennen könne, ohne Befund. Es sei wohl etwas Augenärztliches. Meinte er. Aber da waren wir ja schon, es ist so lächerlich...

Außer den Ärzten habe ich natürlich niemandem gesagt, daß ich nur die Menschen unscharf sehe und alles andere von einer brillanten Klarheit, die für mein Alter geradezu ungewöhnlich ist. Die anderen sollen nur ruhig denken, ich sähe generell kaum noch etwas, denn wenn ich denen das auch noch erklären müßte, würde das ja zum Dauerthema all meiner Gespräche, und ich habe wirklich anderes zu tun.

Morgens in der Frühe muß ich ein wenig achtsam sein: Meine Tochter weiß ja auch nichts Genaues über meinen Sehfehler bzw. über die Art meiner Sehstörung. Warum soll die junge Frau sich auch noch darüber Sorgen machen, es besteht ja auch kein Grund dazu. Mein Schwiegersohn, meine Enkel und die Riesenwohnung sind nun wahrlich genug für sie, um sich um dieses und jenes sorgen zu können, da muß ich Alter nicht auch noch meinen Sermon zugeben.

Hin und wieder aber wird es grotesk, das gebe ich ja zu, und ich mußte mir schon mehr als einmal das Lachen verbeißen, das können Sie mir aber glauben: Letztens im Zoo zum Beispiel. Ich konnte natürlich alle Käfige, Tiere, Büsche und Informations-Schilder sehen und auch alles problemlos lesen, und selbst die winzigen Elritzchen im Aquarium konnte ich bestaunen, obwohl das Licht ja dort nun wirklich nicht gerade optimal ist. Aber ich mußte immer so tun, als erkenne ich das alles nicht, tat hilflos, biß mir auf die Zunge, um nur ja nicht laut loszuprusten, wenn ich meine Enkelin fragte, ob wir bei den Fischen oder bei den Vögeln seien. Die gute Kleine war stolz, ihrem Opa alles erklären zu können, wie kleine Kinder nun einmal sind.

An der Kasse passierte aber etwas Unangenehmes, denn ich sprach den Kassierer am Eingang doch tatsächlich mit "Fräulein" an, weil ich ihn nur als Schatten sah, und die freundliche Bedienung im Zoo-Café rief ich mit "Herr Ober" an den Tisch, wobei meine Enkelin vor Vergnügen quiekte. "Opa, das ist aber doch ein Fräulein!", quäkte sie und meiner Tochter ist fast die Kaffeetasse aus der Hand gefallen, weil sie dachte, das sei einer meiner albernen Scherze. Sie murmelte dann auch eine Entschuldigung und sagte etwas von "nahezu blind" in Richtung der jungen Kellnerin, die das ganze aber gar nicht so erschütternd fand. Ich glaube, die Damen dort sind anderes gewöhnt.

Ja. Aber wenn die Sterne leuchten, oder der Mond mit seinen wunderbaren Kratern hell über der Stadt hängt, wenn der Frühling seine Blütenpracht entstehen läßt, der Sommer sein Strahlen zeigt, der Herbst seine Blätter in ihrer schönen pastellenen Buntheit über den Gehweg fegen läßt, wenn der Winter alles in klares helles Weiß kleidet, und wenn die Wälder und Felder all ihre Schönheit zum besten und die Kühe und Vögel all ihre Würde zur Schau stellen, wenn die Kinder ihre bunten Bälle in die Luft werfen, und die jungen Hunde von Milchschattengewächsen an ihren Leinen ausgeführt werden, ja, dann ist das ein wunderbarer Anblick!

Peter Busch
Wege. Brüche. Gedichte & Erzählungen
Mit 8 Fotografien des Autors
ISBN 3-934208-08-8
2001, 96 Seiten, 11 * 18 cm, kartoniert
€ 10,10

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