Auszug aus "Pannes: ungebeten". Der Irrtum:

... Es waren die einzigen Minuten des Tages, in denen ich mich nicht mit der Welt auseinandersetzen mußte. In denen ich nicht kommunizieren, nicht entscheiden, nicht reagieren mußte. Ich überließ mich der kühlen Luft, dem feinen aber beharrlichen Licht, das sich allmählich durch die Morgennebel kämpfte und der alles umfassenden Ruhe.

Etliche Straßenzüge ging ich entlang, überquerte einen runden Platz, auf dem sich an Markttagen eine schreiende Masse nervöser Menschen hin und her schob, schlenderte an flachen Schaufenstern entlang und näherte mich ohne Alternative den riesigen eintönigen Grünflächen, die die Einwohner diplomatisch als Stadtpark bezeichneten. Alle Wege in dieser Stadt endeten irgendwann dort. Der Park lag so zentral, daß man sich unwillkürlich fragte, was dort vergraben liegen mußte, daß freiwillig darauf verzichtet wurde, die Gegend zu bebauen. Tatsache war, daß hier schon vor langer Zeit Menschen damit angefangen hatten, um diese Flächen herum zu bauen. Ob aus guten Gründen oder weil einfach keiner den Anfang machen wollte - man wußte es nicht und niemand fragte mehr danach.

Der Park selbst war langweilig. Er mußte mehr oder weniger zufällig entstanden sein, denn niemand hätte ernsthaft so etwas konzipieren können. Das vermutlich einzig Interessante dort waren die Reste einer alten Stadtmauer, die auf einer Länge von etwa einem Kilometer die Grünflächen in einer fast schnurgeraden Linie durchschnitten. Ansonsten war es die Größe, die dem Park eine gewisse Bedeutung verlieh. An Sonntagen oder zu Tageszeiten, an denen Jogger und Spaziergänger die zahllosen Wege bevölkerten oder Hundebesitzer ihrer ewigen Pflicht nachgingen, schien es, als würde die Weitläufigkeit der Anlagen mit der Zahl ihrer Besucher wachsen. Man sah sich zwar aus der Ferne, begegnete sich aber selten. Früh morgens, zu Zeiten, die jedem auch nur halbherzigen Langschläfer die Tränen in die Augen treiben würde, intensivierten sich die Besonderheiten des Ortes noch. Dann erschien er wie ein karger Planet ohne Anfang und ohne Ende. In einer fast martialischen Form von Reizlosigkeit. Daran konnte auch die Stadtmauer nichts ändern. In der Regel vermied ich es, den Park zu betreten, denn er schien noch weniger zur Realität zu gehören als eine schlafende Stadt am frühen Morgen.

Ich bummelte eine Weile zwischen leeren Beeten und mageren Sträuchern umher. Es ärgerte mich, daß sich der Frühling dieses Jahr so viel Zeit ließ. Jeder erwartete ihn sehnsüchtig und er kümmerte sich einen Dreck darum. Ich hob einen Kieselstein auf und schleuderte ihn in den Dunst über mir. Fast meinte ich höhnisches Gelächter zu hören. 'Netter Versuch, aber so wird das nichts.' Um meinen Augen irgend etwas zu bieten, drehte ich mich zur Stadtmauer. Einem beruhigenden Zeugnis menschlicher Existenz. Von weitem konnte man ihre Ausmaße nur erahnen. Zinnen von unterschiedlicher Höhe ruhten auf einer mindestens zehn Meter hohen Mauer aus verwitterten Gesteinsblöcken und ragten steil in den Himmel hinein.

Mir war wohl nach einem bißchen Demut und so wandten sich meine Schritte in Richtung dieser versteinerten Version eines Einschüchterungsversuches. Je näher ich kam, desto mehr schien sich die Mauer zu allen Seiten hin auszudehnen, bis sie mein gesamtes Blickfeld einnahm. Moose bedeckten große Teile des Gesteins und gaben seiner Oberfläche einen ungesunden Schimmer. Spinnen hatten Netze zwischen den Gesteinsritzen gewoben und warteten auf Opfer. In einer eigenen kleinen Welt, in der die Menschen keine Bedeutung haben. In der einfältige, harmlose Fliegen, nur weil sie zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort sind, eingeschnürt und bei lebendigem Leibe verspeist werden. In einer Welt, die der unseren vermutlich gar nicht unähnlich ist.

Sehr plötzlich überfiel mich das Bedürfnis, dem Anblick dieses engen Kosmos zu entkommen und ich legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel schimmerte mittlerweile silbrig und blendete mich für einen Moment so sehr, daß ich die Gestalt zunächst nur als Schatten wahrnahm. Als eine schmale und seltsam logische Verlängerung der Zinnen. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe sich meine Augen soweit an die Helligkeit gewöhnt hatten, daß ich mehr erkennen konnte. Ein Mann stand aufrecht und mit erhobenem Kopf auf einer der Zinnen unmittelbar über mir. Eine dünne, zerbrechliche Silhouette. Er konnte noch nicht lange dort stehen, denn aus der Ferne hätte ich ihn sehen müssen. Völlig reglos stand er da und schien zu warten. Ich wollte eigentlich nicht näher ergründen, worauf er wartete und was passieren würde, wenn das Erwartete eintritt. Ich wollte nicht, daß ich zu einem Teil irgendwelcher Ereignisse wurde, nur indem ich zufällig anwesend war. Und trotzdem blieb ich stehen, weit unter ihm, und starrte mit wachsendem Widerwillen zu ihm empor. Angezogen und abgestoßen zugleich. Ich ahnte, weigerte mich aber, auch zu begreifen. Es war jene Art lähmender Faszination, die Menschen davon abhält, in Situationen, deren fatalen Ausgang sie zu kennen glauben, die Flucht zu ergreifen.

Die erst so angenehme Ruhe schien sich über dieser Szenerie zu verdichten. Schnürte sie in ein Korsett, zwang sie zur völligen Bewegungslosigkeit. Ich hätte es als bedrückend oder schmerzhaft empfunden, wenn die Situation eine andere gewesen wäre. Doch nicht in diesem Augenblick. Ich fürchtete jedes Geräusch, jede Bewegung, jede Ablenkung. Sie konnten der Auslöser sein. Ein leichter Wind war aufgekommen und blies in meinen Nacken. Ich schüttelte mich und fuhr fort, nach oben zu starren. Klebte mit meinen Augen an der hoch aufgerichteten Gestalt, als könnte ich damit den weiteren Verlauf beeinflussen. Der Mann bewegte sich noch immer nicht und ich versuchte, Einzelheiten zu erkennen. Es war erst schwierig, mehr als seine Konturen auszumachen. Soweit ich sehen konnte, bestand seine Kleidung aus einer Vielzahl von farblosen Stoffbahnen, die sich in unterschiedlichen Längen um seinen Körper schlangen. Die längste davon reichte bis zu seinen Knien. Darunter trug er eine Art Strumpfhose, die an den Knöcheln endete. Außerdem war er barfuß. All das zusammen sah derart grotesk aus, daß ich nicht einen Augenblick an der Ernsthaftigkeit seines Vorhabens zweifelte. Niemand überschreitet gewisse Grenzen aus purem Vergnügen. Das Morgenlicht schien ihn mit dem Himmel über und hinter ihm verschmelzen zu wollen, und als der erste matte Sonnenstrahl durchbrach und auf ihn fiel, mußte ich ein paar Mal blinzeln, ehe ich mir sicher sein konnte, daß er noch immer dort stand. Still und aufrecht. Ohne die kleinste Unsicherheit zu zeigen.

Der Ort schien ihm sehr vertraut zu sein. Vielleicht hatte er schon oft dort gestanden, so natürlich fügte sich seine Gestalt in die Umgebung ein. Ich spürte, wie ich mich unweigerlich entspannte. Der Gedanke, vielleicht lediglich Zeugin eines wiederkehrenden Rituals zu sein, hatte etwas unendlich Beruhigendes. Warum sollte er etwas wiederholen, das er nicht vorher für gut befunden hatte. Mir kam der Gedanke, meine Anwesenheit könnte dabei unerwünscht sein und etwas widerstrebend entschloß ich mich, weiterzugehen. Noch immer haftete der Situation etwas unwiderstehlich Rätselhaftes an. Ein letztes Mal wollte ich den bizarren Anblick in mich aufnehmen - ich wollte mich später erinnern können - da begann er sich zu bewegen. Langsam hob er die Arme, führte sie leicht gebogen wie ein Ballettänzer empor, bis sie über seinem Kopf in ein breit gestrecktes V mündeten. Dann stieg er auf die Zehenspitzen und hob sein Gesicht dem Himmel entgegen. Grenzenloses Vertrauen ging von ihm aus. Ich wollte "Nein!" schreien, brachte aber nur ein tonloses Keuchen hervor. Er verharrte einen Augenblick in seiner gestreckten Haltung. Ich schloß die Augen und wünschte mich nur fünfzehn Minuten zurück in die Vergangenheit. ...

Barbara Pannes
ungebeten: Erzählungen
ISBN 3-934208-05-3
2000, 84 Seiten, 11 * 18 cm, kartoniert
€ 7,60

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